Vögel müssen Hunger leiden, wenn sie den Klimawandel verschlafen und den gedeckten Tisch verpassen. Vor allem Langstreckenzieher aus Afrika wie der Kuckuck kommen mit dem immer schnelleren Frühling nur schwer zurecht.

Liebe Mitbewohner:innen!

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt, lernt es auf die harte Tour, wie seinerzeit Erich Honecker am Ende der DDR. Das war gestern, heute stehen wir mitten in einer viel größeren, epochalen Zeitenwende – und sie betrifft nicht nur uns Menschen. Zugvögel stehen durch den Klimawandel seit Jahrzehnten unter Stress. Sie riskieren viel. Die kräftezehrende Flugreise über tausende Kilometer muss sich am Ende bezahlt machen. Die Vögel kommen nicht aus Heimweh nach Europa. Sie kommen, weil sie für ihren hungrigen Nachwuchs einen gedeckten Tisch benötigen. Was aber, wenn das Buffet schon abgeräumt ist?

Enormer Anpassungsdruck

Beginnend mit dem Schneeglöckchen startet heute die Vegetation um ein, zwei Wochen früher in den Frühling als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das löst eine Kettenreaktion aus. Angefangen bei den Raupen und Schmetterlingen, die sich beeilen müssen, um Blätter und Blüten nicht zu verpassen, über die Vögel, die sich an Raupen und Schmetterlingen laben, bis zu den Raubvögeln, die Mäuse und anderes Kleingetier erwischen wollen, die ebenfalls früher aus dem Winterschlaf müssen. In England kommt deswegen bereits jede dritte Vogelart 9 Tage früher aus dem Wintergebieten zurück, in Deutschland singt die Mönchsgrasmücke heute 17 Tage früher in den Bäumen. Vor allem die Kurz- und Mittelstreckenzieher unter den Vögeln – Vögel, die den Kontinent nicht verlassen oder maximal Nordafrika ansteuern – reagieren auf den Klimawandel. Sie kommen nicht nur früher, sie fliegen auch weniger weit oder entdecken neue Gebiete zur Überwinterung. Rotmilane beispielsweise fliegen oft nur mehr bis Südfrankreich und verzichten auf den Weiterflug nach Gibraltar, Mönchsgrasmücken haben neben Südfrankreich, Spanien oder Nordafrika jetzt auch Südengland als Winterrückzugsgebiet entdeckt. Wieder andere Vögel reagieren auf die milderen und kürzeren Winter und fliegen nicht mehr weg, sie riskieren eine Überwinterung. Die Belohnung: Sobald sich die Natur regt, sind sie zur Stelle und die Konkurrenz in Afrika noch fern. So haben beispielsweise Rotkehlchen in Deutschland ihr Nomadentum bereits aufgegeben.

Langstreckenzieher sind unflexibler

Generell passen sich Kurzstreckenzieher leichter an den Klimawandel an als Langstreckenzieher. Das Zugmuster der Weitflieger wie Kuckuck, Nachtigall oder Mauersegler ist unflexibler und beruht auf über Generationen weitervererbten Erfahrungswerten. Der Abflug der Vögel richtet sich nach Tageslänge, Witterung und Nahrungsangebot, und die Reiseroute ist genau festgelegt und hat sich über Jahrtausende bewährt. Aber an allem rüttelt der Klimawandel: Wenn an den altbekannten Rastplätzen immer öfter die Zwischenmahlzeiten auf Grund von vermehrten Dürren ausfallen, bleiben viele Vögel schon bei der gefährlichen Überquerung der Sahara auf der Strecke. Wenn die Übriggebliebenen dann zu spät in Europa ankommen, weil die vererbte Astronomie sie zu spät losgeschickt hat, ist die Konkurrenz schon da. Die wachsende Zahl an Überwinterern und anpassungsfähigeren Kurzstreckenziehern halten die besten Reviere besetzt.

Zum Klimawandel kommt das Insektensterben

Es ist aber noch schlimmer für die Vögel. Zum Anpassungsdruck des Klimawandels kommt noch eine intensive Landwirtschaft gepaart mit Rasenrobotern, die in unseren Gärten eine Wüste für Insekten hinterlassen. Die Folge ist ein dramatisches Insektensterben: Die Insekten, von denen die Vögel direkt oder indirekt leben, sind in den vergangenen 30 Jahren um bis zu zwei Drittel dezimiert worden. Damit fehlt es den Vögeln an Futter und als Folge fliegen ein Drittel weniger Vögel am Himmel. In Summe steht die Resilienz der Vögel durch den Klimawandel und das Insektensterben unter einem erbarmungslosen Druck. Manche Arten werden ihn bewältigen, vielleicht sogar profitieren, manche am Klimawandel und der industriellen Landwirtschaft zerbrechen.

Das entscheidende Jahrzehnt

Und wir, wie lange halten wir das aus? Wie steht es um unsere Resilienz? Uns Menschen geht es nicht besser. Der Klimawandel und letztendlich auch das von uns verursachte Artensterben werden auch uns immer mehr zusetzen. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Wir sind die Ursache und verstehen das Problem. Wir haben das Ruder in der Hand und müssen es nur herumreißen. Wir müssen nachhaltigere und resilientere Strukturen aufbauen. Dieses Jahrzehnt, die 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts, werden das entscheidende Jahrzehnt dafür sein.

Liebe Mitbewohner:innen, lasst uns das tun!