Witz gefällig? „Wer fährt heutzutage noch öffentlich? Die drei großen A: Alkoholiker, Arbeitslose und Asoziale!“ So lautet im Wien der 60er Jahre ein beliebter Schenkelkklopfer. Straßenbahnfahren ist out, Autofahren ist in. Egal wie viel Lärm und Gestank die Autos in die Stadt bringen, im Autowahn wird für sie Platz gemacht. In den wichtigsten Großstädten der Welt hatte man die Straßenbahnschienen längst herausgerissen und die Waggons auf den Müllplatz der Geschichte geworfen; im damals verschlafenden Wien – am Rande des Eisernen Vorhangs – ist man gerade dabei damit anzufangen.

Bis ein junger Kärntner die Bühne betritt, der heute weltweit renommierte Verkehrsplaner Prof. Hermann Knoflacher.

Der studierte Bauingenieur, Vermesser und Mathematiker läßt sich von den hochpolierten Blechschönheiten nicht blenden. Er riecht den Gestank, hört den Lärm und diagnostiziert schon früh die Entmenschlichung der Großstadt durch das Auto… und macht sich in den kommenden Jahren nur wenig Freunde.

Schildbürgerstreiche

1968 plant er die erste Fußgängerzone Wiens in der Kärntnerstraße. Aufgebrachte Kaufleute fürchten um ihre Auto-Kundschaft und wollen ihn heim nach Kärnten jagen. Aber Knoflacher ist fachlich nicht angreifbar und geschickt im Umgang mit der Politik. Heute ist die Kärntner Straße eine der umsatzstärksten Einkaufsstraßen Österreichs.

1972 droht ein Schildbürgerstreich: Eine aufgeständerte Gürtelautobahn soll in luftiger Höhe – wo heute die U6 fährt – von der Brigittenauer Brücke bis zur A23 im Süden führen. Knoflacher agiert als Informant jener Bürgerinitiative, die die Stadtautobahn schließlich zu Fall bringt.

Das Ringstraßenprojekt

1973 wird es knifflig. Knoflacher erhält den Auftrag, den gewagten Entwurf des renommierten Architekten Victor Gruen umzusetzen: Der erste Bezirk soll autofreies „Fußgängerschutzgebiet“ werden. Im Gegenzug soll der Ring von den altmodischen Straßenbahnen befreit und vollständig für den Autoverkehr frei gegeben und mit zahlreichen Tiefgaragen bestückt werden; z.B. eine für 5000 Autos direkt unter dem Heldenplatz.

Netzwiderstände 

Knoflacher ist wenig begeistert und zieht alle wissenschaftlichen Register: Für eine realistischere Berechnung der Fahrgastzahlen führt er „Netzwiderstände“ ins Verkehrsmodell ein. Die Idee dahinter: Ein Fahrgast geht wie das Wasser den Weg des geringsten Widerstandes. Ist das Umsteigen an den Verkehrsknotenpunkten mit zu großem „Netzwiderstand“ verbunden – wenn zum Beispiel viele Treppen und lange Gehwege zu bewältigen sind – wird der Fahrgast das Verkehrsmittel meiden. So kann Prof. Knoflacher beweisen, dass die geplante U2 von den Fahrgästen nicht so gut angenommen wird, wie in den alten Berechnungen angenommen – und: dass daher die Straßenbahnen für die Beförderung der Wiener weiter benötigt werden. Zu allem Überfluss verstopfen die Zufahrten zu den geplanten Tiefgaragen die Ringstraße.

Das Monster-Projekt auf tönernen Beinen kann dem fachlichen Konter Knoflachers nicht standhalten und wird von der Stadt wiederwillig abgeblasen. Offizielle Begründung: Die wertvollen Reiterstatuen am Heldenplatz könnten durch den übergroßen Tiefgaragenbau Schaden nehmen… na ja.

Glücksfall für Wien

Viel wichtiger: Das gescheiterte Projekt erweist sich als Glücksfall für Wien! Während weltweit die Straßenbahnen dem Autowahn zum Opfer fallen, belegt Prof. Knoflacher mit Zahlen, Daten und Fakten ihren Wert. Heute ist das älteste öffentliche Verkehrsmittel Wiens der Stolz der Stadt, um das uns die ganze Welt beneidet.

Nach 50 Jahren im Dienste des Verkehrs in der Hauptstadt radelt der emeritierte Professor heute am Liebsten durch die Stadt. Jetzt lacht er, und Wien sagt danke.

aus ORF III Quantensprung „Moderner Verkehr“